Schatzkammer Alverskirchen
Auch die Monstranz bleibt nicht hinter dieser Ästhetik zurück. Was die konse- krierte Hostie den Gläubigen bedeutet, zeigt diese durch ihre Form an. Als leuch- tender Metallkreis umfasst sie konzen- trisch den „Leib des Herrn“ in der Gestalt des Brotes, nimmt ihn in die Mitte, erhebt ihn in die Höhe und verleiht ihm somit ein Leuchten, einen heiligen Schein. Verzierungsmotive an Gefäßen und Tex- tilien ziehen von selbst die Aufmerksam- keit des Ästheten auf sich. Sie alle spielen auf Themen der Erlösung an. Kreuzi- gungsszenen versenken den Betrachter in das Leiden des Erlösers, dienen dazu, dass er sich mit Jesus identifiziere, sich ihm nahe fühlt; sie ermutigen den Ästhe- ten, im leidenden Herrn einen Tröster für das eigene Leiden zu entdecken. In der zeittypischen Auffassung jenes Christus, der Leid und Tod überwindet, bekommt der Betrachter einen Eindruck davon, wie Christen früherer Zeit ihren Glauben leb- ten und was sie bewegte. Vertreten ist auch das Bild des Guten Hir- ten , das Christus als Hirte, mit einem wiedergefundenen, verletzten Schaf auf seinen Schultern tragend, zeigt. Dieser Christus bietet sich dem Wahrnehmen- den als derjenige an, der ihn sein Leben lang schützen, leiten, führen und behü- ten will. Das Christusbild spricht von einem Stärkeren und einem Schwäche- ren, von Beschützen und Beschütztwer- den, vomTragen und Getragenwerden, es spricht von Wärme, Heilung, Heimkehr und Zusammengehörigkeit und ist auch für einen Ästheten im Industriezeitalter, wo Schafhirten kaum noch anzutreffen sind, in vollem Umfang verständlich und zugänglich: Jeder Mensch braucht einen Guten Hirten. Das Bild des Pelikans erinnert daran, dass er in der Not seine Jungen mit seinem ei- genen Blut und Fleisch nährt. Das Pelikan- bild gilt demnach als Symbol der selbst- losen Liebe. Unter der vielfältigen Blatt-, Blumen und Fruchtornamentik stehen Weinblatt, Re- ben und Ähren als bedeutungsvolle Hin- weise auf die Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit; Gaben, die in der Eucharistie zu Leib und Blut des Herrn verwandelt werden. Neben diesen irdischen finden sich auch himmlische Motive. Engeldarstellungen an Gefäßen und Textilien versetzen den Betrachter in die Gegenwart des himmli- schen Gottes, dienen als Interpreten der Heilsgeschichte, lächeln den Betrachter an, weisen ihn an, in jeder Lebenslage auf Gott hin zu schauen. Der Wahrnehmende, der Ästhet stellt bald fest: Diese Exponate sind aus dem entsprungen, was vorher im Glauben lebendig geschaut, in einer Vorstellung geformt und in theologischer Reflexion durchdacht worden ist. Sie zeigen, was es bedeutet, die Kunst in den Dienst der Gottesliebe mit aller Kraft des Sehens und Gestaltens zu stellen. Nur die voll- kommene Form und die höchste Qualität sind dem Gottesdienst angemessen. Neben Architektur, Malerei, Skulptur und Musik drücken auch Gewand und Gefäß anschaulich den Glauben an Gott und die Liebe zu ihm aus. Nicht zuletzt stellt der Glaubensästhet auch bald fest, dass die meisten Expona- te Schenkungen, Stiftungen, Früchte großzügiger Spenden von Alverskirche- nern sind. Ehrfurcht vor diesem anver- trauten Erbe wird wach. Für den Alvers- kirchener Glaubensästhet öffnen diese 11 Das Christentum ist nicht nur zu denken und zu tun; es ist auch zu sehen. So laden uns Johannes in seinem Evangelium und seine Schüler in den Johannesbriefen ein, in die Schule des gläubigen Sehens einzu- treten (vgl. etwa Joh 8,38; 12,38-41; 1 Joh 1,1). Der griechische Name für Gott, the- ós , hat die gleiche Sprachwurzel wie The- orie und Theater: das Verb theáomai , anschauen. Gott ist für die Griechen der, zu dem wir die Augen erheben. Wörtlich genommen kann man folglich Theologie somit auch mit Seh kunde wiedergeben. An diesen entscheidenden Aspekt des Glaubens knüpft die Alverskirchener Schatzkammer an. Sie ist ein Raum, der Glaube und Ästhetik (vom aisthánomai : mit den Sinnen wahrnehmen) zu einem Wort werden lässt: Glaubensästhetik. Sie ist ein Raum für das sinnliche Schauen und Erkennen des Glaubens. Bereits der Raum, in dem sie unterge- bracht ist, lädt ein zum Hineinschauen, weckt die Lust auf Ästhetik, die Lust dar- auf, das darin Sichtbare wahrzunehmen. Konzipiert wurde er von der renommier- ten Gestalterin Ingrid Bussenius, Köln. An der Nordwand des Raumes erhebt sich – dem gotischen Fenster vorgelagert – eine Wandscheibe mit entsprechendem Spitz- bogen. Das Tageslicht fließt daher ge- dämpft nur an den Kanten der Wand- scheibe in den Raum und erzeugt ein von der Gotik inspiriertes Schattenspiel um die abgetreppten Wandvorlagen. Das Spiel zwischen Licht und Schatten fesselt den Blick des Betrachters und lenkt ihn nach oben auf die von der Wandscheibe getragene Vitrine, in der ein Hungertuch- fragment zu sehen ist. In fünf weiteren schlichten und hochwertigen Säulenvitri- nen präsentieren sich auf stilvolle Weise entsprechend der konservatorischen Vor- gaben die liturgischen Gefäße (Vasa sacra et non sacra) und die mit kostbaren Sti- ckereien verzierten Gewänder – eine ein- drucksvolle Kunstsammlung aus über 800 Jahren Alverskirchener Glaubensge- schichte. Eine derartige Gestaltung bin- det den Raum der Schatzkammer in die gotische Architektur der Kirche ein. Bei näherer Betrachtung offenbart jedes Exponat seine Form und Qualität, sein Wesen und seine Funktion. Das Sichtbare (Form und Qualität) verweist automa- tisch auf das Gemeinte (Wesen und Funk- tion). Die Ästhetik erschließt den Glau- ben. Hierfür seien drei Beispiele genannt: Hinter der Form eines Kelches entdeckt der Wahrnehmende, der Ästhet seine Funktion. Ein Kelch steht fest mit seinem breiten Fuß auf dem Boden. Anders als bei einem Becher erhebt er das Getränk mit seinem Stiel, birgt das Getränk in sei- ner Schale und bietet sich dadurch zur Erhebung an. Edler als der Becher ist er nicht nur in seiner Form und Qualität, sondern auch in seiner Handhabung. Er bedeutet nicht nur kultiviertes Trinken. Wenn wir das „Blut Christi“ als Allerheilig- stes verehren und trinken, sollte auch sei- ne Fassung als Gefäß möglichst jenen Wert vermitteln, den wir dem „Blut Chri- sti“ als seinem Inhalt gläubig zuschreiben. 10 Der Glaube sucht die Ästhetik Hector Sanchez
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