Schatzkammer Alverskirchen

Es fehlen ebenso archivalische Quellen zur textilen Ausstattung in nachmittelal- terlicher Zeit. Befragt man die im Bistum Münster seit 1566 überlieferten Visitationsprotokolle aus nachtridentinischer Zeit, so finden sich auch hier allgemein nur wenige Anhaltspunkte über das Vorhandensein und die Beschaffenheit der Paramente in den ländlichen Pfarreien Westfalens. Ganz allgemein wird zumeist vermerkt, die „Ornamente befänden sich in guter Ordnung“. Allein aus der Pfarrkirche zu Hembergen (Emsdetten) wird 1571 mit Erstaunen notiert: „Keine Vikarien. Nur ein Messgewand mit Zubehör ist vorhan- den. Dat werdt dar gebruket alle dage, Fridach, Sundach, Mondach, Paschedag: in summa alle dage.“ 8 Da aber durch ein Visitationsprotokoll von 1613 mehrere Prozessionen belegt sind, kann in St. Agatha von einer reicheren Ausstattung ausgegangen werden. 9 Der Begriff Paramente umfasst alle tex- tilen Objekte, die zur Ausstattung des Kirchenraums gehören. Der heute erhal- tene historische Bestand umfasst 24 Gewänder in den liturgischen Farben Weiß, Rot, Grün, Violett und Schwarz, darunter zwei Ornate in den Farben Weiß und Rot, bestehend als Kaseln und Dal- matiken mit Zubehör. Bei der überwie- genden Zahl der Gewänder ist das Zube- hör, bestehend aus Stola, Manipel, Kelch- velum und gelegentlich einer Bursa, be- wahrt geblieben. Erhalten sind ferner ein Chormantel, eine reich gestickte Sakra- mentstola und eine weiße Stola, die zu einer heute verlorenen weißen Kasel gehörte. Betrachtet man den Bestand hinsichtlich der Farbigkeit, so überwiegen die weißen, an Herrenfesten getragenen Gewänder, aber auch die roten, zu Pfing- sten und an Heiligen- und Märtyrerfes- ten getragenen wie auch die zu Exequien gebrauchten Trauergewänder kommen in größerer Zahl vor. Die Gewänder um- fassen einen zeitlichen Rahmen von 1740 bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhun- derts. Als ältestes und besonders kostbares Parament hat sich ein Bildmotiv als Teil eines Hungertuches aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erhalten (Kat.-Nr. 18). Die Darstellung der Kreuzigung Christi kann als zentrales Motiv eines einst größerformatigen Tuches betrach- tet werden und ist als Filetstickerei auf einem geknüpften Netz aus weißem Leinengarn gefertigt. Es zählt damit zu einer Gruppe von Weiß-Stickereien, die durch diese bewusst gewählte Technik und den Verzicht auf Farbigkeit ausgezei- chnet ist. Die sichtbaren Motive werden in Konturen abstrahiert, während Trans- parenz und Schattenbilder die Qualität des verhüllenden Momentes steigern. Das Hungertuch wird in kirchlich-liturgi- schem Sprachgebrauch als ‚velum quadra- gesimale’ bezeichnet, ein Verweis auf die 40-tägige Dauer der Fastenzeit. Es ver- hüllte einst während der Passionszeit, der „bilderlosen Zeit“, den Hochaltar mit dem Kreuz. Das Prinzip der Verhüllung grün- det in frühchristlicher Zeit und kommt in den Paulusworten im Zweiten Korinther- brief zum Ausdruck: Richten wir unseren Blick nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn das Sichtbare ist bloß zeitlich, das Unsichtbare aber ewig (2 Kor 4,18). Während das Spätmittelalter als Blütezeit der Fastentücher mit einer 55 Im Verzeichnis der Bau- und Kunst- denkmäler von Westfalen von 1897 sind im Bestand der Pfarrkirche St. Agatha zu Alverskirchen keinerlei Paramente ver- zeichnet. 1 Das Inventar entstand, nach- dem wenige Jahrzehnte zuvor Textilien und insbesondere Paramente des Mitte- lalters als erstmals zu klassifizierende Gattung in den Fokus kunstwissen- schaftlicher Forschung gerückt waren. Die kunsthistorische Erforschung auch der neuzeitlichen Paramentik setzte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Pub- likationen von Otto von Falke in Berlin und Fritz Witte in den Rheinlanden ein, zu einer Zeit, als zugleich mit der Li- turgiereform die Diskussion um eine Neuerung der modernen Paramentik be- gann. 2 Zum damaligen Zeitpunkt der Erfassung der Kunstwerke in Pfarrbesitz wurden Gewänder der Barockzeit allge- mein nur summarisch erwähnt; selten fanden zeitgenössischen Paramente wis- senschaftliche Beachtung. So erklärt es sich, dass die Paramentik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die gerade im Rheinland – vor allem in den Krefelder Manufakturen und in den Werkstätten am Niederrhein und in Westfalen zu neuer Blüte geführt wurde – bislang erst in Ansätzen erforscht ist. 3 Die kunsthis- torische Beachtung der Paramentik des Historismus in jüngerer Zeit verdankt sich nicht zuletzt der seit den 1970er Jahren erfolgten Denkmälerinventarisation in den deutschen Bistümern. Eine Auswer- tung auf breiter Materialbasis ist nach wie vor ein Forschungsdesiderat. 4 So ist auch der Paramentenschatz der Pfarrkirche St. Agatha, der – neben einigen Gewändern des 18. Jahrhunderts – einen zeitlichen Schwerpunkt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigt und durch eine große Homogenität ausge- zeichnet ist, an dieser Stelle vor allem nach stilistischen Kriterien eingeordnet worden. Es kann als großes Glück erachtet werden, dass sich in der neuzeitlichen Pfarrchronik der Gemeinde einige Hin- weise auf die Entstehung, auf Neuan- käufe und Stiftungen finden, die eine konkrete Zuordnung zu den noch erhalte- nen Denkmälern erlauben und Anhalt- spunkt für eine genauere Datierung bieten. 5 Diese Angaben führen ein reiches Beziehungsgeflecht von Grundherrschaft und Pfarrgemeinde, großzügiges Engage- ment der Gläubigen und den prägenden Einfluss der hier wirkenden Geistlichen vor Augen. Sie lassen die Paramente zu kostbaren Zeugnissen einer lebendigen Ortsgeschichte werden. Die Pfarrkirche St. Agatha – bis zum 17. Jahrhundert dem hl. Täufer Johannes ge- weiht – besteht spätestens seit dem 12. Jahrhundert als eigenständige Kirche ein- er kleinen Landgemeinde. 6 Aus der Zeit des Mittelalters hat sich kein textiler Bestand in der Pfarrkirche erhal- ten. Jedoch gibt ein spätgotisches Kasel- kreuz im nahe liegenden Brückhausen Zeugnis der Textilkunst dieser Zeit. 7 Es ist zudem davon auszugehen, dass die Her- ren von Brückhausen die Pfarrkirche mit Donationen versahen. 54 Der textile Schatz von Alverskirchen Gudrun Sporbeck

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